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Die Erinnerung ist eine Pflicht gegenüber den Tote... eingestellt am: 30.07.2007

Fassungslosigkeit und Diskussionsbereitschaft! Der Zeitzeugenbericht eines ehemaligen KZ-Häftling löst bei den Schülern der Staatlichen Wirtschaftsschule Deggendorf gegensätzliche Gefühle aus. "Wir gehen durch das Tor, entlang der Rampe. Wieder höre ich, wie sie die Waggontüren aufreißen, wieder höre ich das Brüllen der SS-Männer, wieder höre ich das Schreien und Weinen der Kinder. Die Erinnerungen schmerzen überall, meine Kehle schwillt an und lässt keine Luft mehr durch".

Mit diesen Worten zog Otto Schwerdt sofort die Schüler, Eltern und Lehrer der Wirtschaftschule Deggendorf in Bann, als er am 12. Juli im Rahmen eines Zeitzeugengespräches seine Erlebnisse aus dem Konzentrationslager Auschwitz berichtete.

Otto Schwerdt, ein deutscher Jude, übersiedelte mit seiner Familie im Jahr 1939, kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten nach Polen. Allmählich wurden aber auch dort ihre persönlichen Rechte immer weiter eingeengt. Bis die Familie allerdings die Gefahr erkannte, war es schon zu spät. Die Nationalsozialisten eroberten Polen, die Familie wurde gefangen genommen und musste in verschiedene Ghettos. Ein langer Leidensweg begann. 1943 deportierten die Nazis die Familienmitglieder in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Nach drei Monaten kamen Otto Schwerdt und sein Vater in das Arbeitslager Fünfteichen. Im Mai 1945 wurden beide im Konzentrationslager Theresienstadt befreit, die übrige Familie fiel der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zum Opfer. Erst 1954 kehrte Schwerdt nach Regensburg zurück, wo er dann als Kaufmann tätig war.

Otto Schwerdt ist heute Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Regensburg und Landesausschussvorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern und wurde im Jahr 2006 mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet.

Die Vorbereitung

Um den Zeitzeugenvortrag für die Schüler der Staatlichen Wirtschaftschule möglichst gewinnbringend zu gestalten, besprachen die achten und neunten Klassen in den vorangegangenen Deutsch- und Geschichtsstunden interdisziplinär die den Holocaust betreffenden Themenfelder. Fakten, aber auch historisches Spezialwissen aus den Bereichen Medizin-, Organisations- und Militärgeschichte, wurden den Schülern vermittelt. Diese gestalteten und organisierten dann den Zeitzeugenvortrag unter der Anleitung ihres Geschichtslehrers Christoph Schneider. Die beeindruckende Leistung konnten die Schüler so am Donnerstag der Öffentlichkeit präsentieren.

Die Schüler hatten auf Stellwänden historische Informationen über den Holocaust, medizinische Versuche und die Struktur des NS-Staates und der SS erarbeitet. Auch die Entstehung und Bedeutung des Antisemitismus in Deutschland wurden ausführlich erklärt. Besonderes Augenmerk der Schüler galt der Geschichte der Konzentrationslager, insbesondere dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und die in ihnen herrschenden Bedingungen für die Häftlinge. Eine Gruppe von Schülern hatte sogar ein detailliertes Modell des KZ Auschwitz nachgebaut und mit Photos von erschreckender Eindringlichkeit beklebt. Daneben verfassten die Schüler Pressemitteilungen und für die Besucher eine Begleitbroschüre, in der wichtige biographische Informationen zum Zeitzeugen und zur Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz dargestellt waren.

Die Zuhörer

Vor ca. 100 Besuchern begann Otto Schwerdt dann aus seinem Buch "Als Gott und die Welt schliefen" zwei beeindruckende Stellen vorzulesen. Die Zuhörerschaft war gemischt. Es kamen nicht nur Schüler. Zahlreiche Eltern, Lehrer und fremde Gäste füllten die Aula der staatlichen Wirtschaftschule.

So erfuhren die gebannten Zuhörer von Schwerdts Vertreibung aus dem polnischen Ghetto, das bis 1943 seine Heimat" war, dem Verlust seiner Schwester und Mutter, dem Todesmarsch von Auschwitz nach Fünfteichen und wie er letzten Endes dank einer geschenkten Jacke überleben konnte.

Die Mordfabrik Auschwitz

Besonders beeindruckend war die Schilderung des Lagerlebens im KZ Auschwitz. Auschwitz, ein für die ganze Welt entstandenes Symbol des Terrors und des Völkermordes, konnte, so Otto Schwerdt, nur als eine "Todesmaschine" bezeichnet werden. Die Gründung des Konzentrationslagers datiert auf einen Transport polnischer politischer Gefangener am 14. Juni 1940. In den darauf folgenden Jahren wurde das Lager immer weiter ausgebaut und bestand schließlich aus drei Teilen: Auschwitz I , Auschwitz II-Birkenau , Auschwitz III-Monowitz sowie aus über 40 Nebenlagern .

Ab 1942 wurde Auschwitz zum Ort des größten Massenmordes in der Geschichte der Menschheit an den europäischen Juden, deren völlige Ausrottung die Nazis sich zum Ziel gesetzt hatten. Bis heute existieren keine genauen Opferzahlen. Soweit die Häftlinge nicht schon beim Transport zu den Lagern in Viehwaggons umgekommen waren, wurden sie unmittelbar nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager in Arbeitsfähige und Nicht-Arbeitsfähige selektiert. Kinder und ihre Mütter, Alte und Kranke, führte man in die Gaskammern, die meist als Duschräume getarnt waren. In Auschwitz verwendete die SS für den Tötungsvorgang das Insektenvernichtungsmittel Zyklon B . Das Gas verursacht einen qualvollen, bis zu 20 Minuten dauernden Erstickungstod . Die Leichen wurden anschließend in Krematorien verbrannt. Körperliche Überreste wie Haare oder Goldzähne wurden von der SS industriell verwertet.

Viele Häftlinge missbrauchte aber auch die Medizin im Nationalsozialismus für Experimente. Ärzte von Wehrmacht und SS, die in Auschwitz arbeiteten, führten Frauen chemische Mittel ein, um neue Methoden der Sterilisation zu testen, gefährliche Impfstoffe wurden in vivo injiziert und Zwillingsforschung betrieben. Die meisten Häftlinge starben an den Versuchen. Die Überlebenden wurden ebenfalls getötet, um ihre Leichen zu untersuchen. Menschen mit angeborenen Anomalien wurden vermessen, Experimenten ausgesetzt und meistens ebenfalls getötet, um die toten Körperteile weiter zu untersuchen oder für Demonstrationszwecke zu konservieren.

Otto Schwerdt schilderte den Schülern die perfekte Organisation dieser Mördermaschine. Für ihn war es mit großem Abstand das schrecklichste Todeslager. Ein Überleben war kaum möglich. Es war so gut organisiert, dass die Häftlinge oftmals von der Massenvernichtung nur das Fehlen der Häftlinge registrierten konnten. Fassungslosigkeit und Entsetzen rief bei allen Anwesenden seine eindringliche Schilderung von Todesangst und die tägliche Unwissenheit der Häftlinge über das Überleben hervor. Ein gewaltsamer Tod war in jeder Sekunde möglich.

Die Diskussionsbereitschaft

Es dauerte einige Zeit bis bei den Zuhörern der erste Schock gewichen war. Dann traten sowohl von Schülerseite als auch von der Elterngeneration viele interessierte Fragen auf, die Otto Schwerdt detailliert und ohne Zorn oder Schuldzuweisungen beantwortete.

So wurden Ereignisse und Gefühle offen gelegt, die in Geschichtsbüchern und Dokumentarfilmen kaum nachzulesen sind. Geduldig erklärte Schwerdt konkrete Fakten wie den Unterschied zwischen Arbeits- und Konzentrationslager und genauso ausdauernd schilderte er seine eigenen Einstellungen. Er dankt auch Deutschen, die ihm während dieser schrecklichen Zeit immer wieder geholfen haben und so sein Überleben ermöglicht hatten.

Nach seiner Befreiung studierte Otto Schwerdt Chemie und begann in Israel ein neues Leben. Die Erlebnisse aus dem Konzentrationslager verdrängte er viele Jahre. Zu schrecklich war das Gesehene und Erlebte, an eine Aufarbeitung war nicht zu denken. In der Nachkriegszeit wollte niemand etwas von Konzentrationslagern wissen. Am wenigsten er selbst. Nach einem Besuch im KZ Auschwitz kam ihm jedoch alles wieder zu Bewusstsein. Die Alpträume begannen wieder und dauern bis heute an. Nach jeder Lesung kommen die Bilder und die Eindrücke aus dem Unterbewusstsein. Ein Entrinnen gibt es für ihn nicht mehr.

Auf die Frage, warum er wieder nach Deutschland zurückgekommen war, antwortete er: Ich bin doch ein Deutscher"! Es sei sehr wichtig gewesen, wieder zurückzukommen. Deutschland braucht Juden", so Otto Schwerdt.

Zum Schluss zeigte er den beeindruckten Schülern sogar seine eintätowierte Häftlingsnummer und gebannt zwischen Entsetzen und Faszination über diesen starken und offenen Menschen konnten sich die Schüler noch das Buch signieren lassen.

(LAss Chr. Schneider)


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